Stand: 10.2024
Aktuellere Entwicklungen im Themenkomplex
Gesundheitliche Folgen,
ergänzende Themen:
Aktiver Schallschutz
Passiver Schallschutz
Diese Doku befasst sich mit den negativen Folgen von Lärm auf Mensch und Tier und den Versuchen, diese Folgen durch regulatorische Maßnahmen (Gesetze u.a.) einzuschränken.
Der folgende Text gliedert sich wie folgt:
Sowohl für
Lärm
allgemein als auch für die spezielle Form des
Fluglärms
sind Definition, Messung und Bewertung keineswegs trivial und auch nicht in allen Einzelheiten verbindlich geregelt. Zwar kann die zugrunde liegende physikalische Grösse
Schall
eindeutig bestimmt werden, aber schon die Wissenschaft von dessen Entstehung und Ausbreitung, die
Akustik,
ist relativ komplex.
Schall wird auch erst dann zu Lärm, wenn er von Menschen (ggf. auch
Tieren)
aufgenommen und als Belästigung empfunden wird. Diese subjektive Komponente macht eine Beurteilung und Bewertung schwierig. Der Versuch der Beschreibung allgemeiner Zusammenhänge zwischen Schallereignissen und dem menschlichen Hörempfinden ist Gegenstand der
Psychoakustik.
Auch unabhängig von der empfundenen Belästigung und der Bewertung als Lärm kann Schall physiologische Wirkungen bis hin zum Entstehen oder Fördern von Schäden und Krankheiten, im Extremfall sogar bis zum Tod, auslösen.
Vereinfacht betrachtet ist Schall eine Welle von Druckschwankungen in der Luft, die durch die Stärke der Druckunterschiede (Schalldruck) und die Anzahl der Schwankungen pro Zeit (Frequenz) gekennzeichnet ist. Bei einem reinen Ton bleiben diese beiden Grössen unverändert und erzeugen beim Hören eine bestimmte Lautstärke und Tonhöhe. Geräusche sind Überlagerungen von Tönen und können durch eine Vielzahl von Drücken und Frequenzen gekennzeichnet sein.
Während die Frequenz in der Regel direkt als Anzahl der Schwingungen pro Sekunde oder Hertz angegeben wird, wird der Schalldruck in Form eines logarithmischen Verhältnisses zu einem Bezugswert (20 µPa, entspricht etwa der Hörschwelle für einen 1 kHz-Ton) als
Schalldruckpegel
in Dezibel angegeben. Grund dafür ist, dass sich bei lauteren Geräuschen das menschliche Hörempfinden in etwa entlang dieser logarithmischen Skala ändert in der Form, dass sich im Hörbereich bei einer Zunahme des Schalldruckpegels von 10 dB (= 1 Bel) die empfundene
Lautheit
eines Tones etwa verdoppelt.
Schall wird von Menschen überwiegend auditiv, d.h. über die Ohren wahrgenommen. Dabei ist das Hörvermögen individuell unterschiedlich, d.h. welche Frequenzen ab welcher Lautstärke wahrgenommen werden können (Hörschwelle), ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich und ändert sich mit dem Alter.
Auch ab welcher Lautstärke Schall unangenehm, also zu Lärm wird ("Unbehaglichkeitsschwelle") ist unterschiedlich. Insbesondere diese Schwelle gilt in der dargestellten Form auch nur für reine Töne; wann Geräusche zu Lärm werden, ist eine ganz eigene Frage. Je nach Art des Geräuschs und abhängig von Faktoren wie
Tonhaltigkeit
und
Impulshaltigkeit
kann das bei deutlich niedrigeren Schallpegeln der Fall sein.
Auch die sog. Schmerzgrenze, die häufig als zwischen 120 und 140 dB liegend angegeben wird, ist keine objektiv feststehende Grenze, sondern unterliegt individuellen Schwankungen. Nachweisbar ist allerdings, dass das Risiko unmittelbarer physiologischer Schäden (Hörschäden) oberhalb dieser Grenze drastisch ansteigt.
Inwieweit Schall auch als Schwingung anders als über die Ohren wahrgenommen werden bzw. physiologische Reaktionen auslösen kann, ist nach wie vor Gegenstand von Forschungen.
Dies betrifft insbesondere tiefe Töne mit grossen Wellenlängen, die bei entsprechendem Energiegehalt Vibrationen nicht nur im Hörorgan, sondern auch in anderen Organen auslösen können. Unterschieden wird in der Diskussion dabei üblicherweise ein
Infraschall-Bereich
mit Frequenzen kleiner als 16 oder 20 Hertz und ein
tieffrequenter Bereich
kleiner als 100 - 200 Hz. Nicht nur die Abgrenzungen dieser Bereiche sind unsicher, zum Teil wird auch die Frage aufgeworfen, ob eine Abgrenzung eines eigenen "Infraschall"-Bereichs mit besonderen Eigenschaften
überhaupt gerechtfertigt
ist.
"Verkehrstechnisch günstig gelegen", aber genau deswegen gesundheitlich problematisch: Städte wie Raunheim leiden massiv unter Umgebungslärm.
Ob und wann Schall zu Lärm wird, hängt neben den physikalischen Charakteristika auch von der Art der Einwirkung ab. Um direkte physikalische Wirkungen auszulösen (etwa ein Reissen des Trommelfells), muss Schall sehr hohe Energien transportieren, also auch extrem laut sein. Die meisten negativen Effekte werden aber schon bei sehr viel niedrigeren Energien dadurch bewirkt, dass die Schalleinwirkungen Stressreaktionen auslösen, die dann, wenn sie über mehr oder weniger lange Zeiträume hinweg wirken, zu Krankheiten führen.
So wirken sich schnell von oben nähernde Geräusche für die meisten Menschen bedrohlicher als andere und erzeugen bei gleicher Schallleistung höheren Stress. Ausserdem spielen natürlich die Tageszeit und die jeweilige Tätigkeit sowie auch die grundsätzliche Einstellung gegenüber der jeweiligen Schallquelle eine Rolle ("Mein Hund macht keinen Lärm, der bellt nur.").
Für die Zwecke der
Messung
und
Regulierung
wird Lärm in der Regel eingeteilt nach den Quellen, die den lärmverursachenden Schall erzeugen, auch wenn von diesen Quellen qualitativ sehr unterschiedlicher Lärm erzeugt werden kann. Diese Einteilungen haben sich historisch entwickelt und unterscheiden sich daher zwischen Staaten und Regionen.
Eine Kategorie, die weltweit und auf europäischer Ebene verwendet wird (aber noch nicht durchgehend in Deutschland), ist der
Umgebungslärm
(engl. 'environmental noise'), definiert als die
"Lärmeinwirkungen der Schallquellen Straßenverkehr, Schienenverkehr, Flugverkehr sowie Industrie".
In Deutschland ist der Lärmschutz für fast alle Lärmarten geregelt im Bundes-Immissionsschutzgesetz, das grundsätzlich einen sehr umfassenden Schutzanspruch hat:
Zweck dieses Gesetzes ist es, Menschen, Wild- und Nutztiere und Pflanzen, den Boden, das Wasser, die Atmosphäre, das Klima sowie Kultur- und sonstige Sachgüter vor schädlichen Umwelteinwirkungen zu schützen und dem Entstehen schädlicher Umwelteinwirkungen vorzubeugen.Nicht in dessen Geltungsbereich fallen u.a. die Regelungem zu Fluglärm und Lärm am Arbeitsplatz. Da "die gesetzlichen Regelungen zum Lärmschutz ... dem Interessenausgleich zwischen Lärmverursachern und der betroffenen Nachbarschaft" dienen, können die Abwägungen über die einzuhaltenden Schutzniveaus zwischen den verschiedenen Regelungsbereichen formal durchaus unterschiedlich sein und sind es auch in teilweise krasser Form, obwohl es dafür natürlich keinerlei medizinische Rechtfertigung gibt.
BImSchG, § 1 Zweck des Gesetzes
Um einen gewissen Informations-Austausch über internationale Forschungs-Aktivitäten zu den biologischen Wirkungen von Lärm zu organisieren, wurde in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts die "Internationale Kommission zu biologischen Effekten von Lärm" (International Commission on Biological Effects of Noise, ICBEN) gegründet. Sie organisiert alle drei Jahre (zuletzt 2023) einen Kongress, dessen Vorträge und sonstigen Materialien einen guten Überblick über den Stand der Forschungen liefern.
Innerhalb der Weltgesundheitsorganisation WHO befasst sich insbesondere das Regionalbüro Europa mit den gesundheitlichen Folgen von Lärm und stellt dazu viele interessante
Informationen
bereit.
Von besonderer Bedeutung sind die 2018 überarbeiteten
Environmental Noise Guidelines
für die europäische Region, die als international akzeptierter Standard für die Bewertung von Lärmwirkungen gelten. Eine
Zusammenfassung
der Inhalte gibt es auch in deutscher Übersetzung.
Die WHO weist ausdrücklich (wenn auch nicht sehr plakativ) darauf hin, dass die fast zehn Jahre früher veröffentlichten
Night noise guidelines for Europe
nach wie vor relevant bleiben, da die neuen Leitlinien akute physiologische Wirkungen auf den Schlaf, die von Einzelschall-Ereignissen ausgelöst werden, nicht berücksichtigen.
In der
Ankündigung
der Veröffentlichung der Leitlinien 2018 erklärte die WHO-Generaldirektorin:
"Die neuen WHO-Leitlinien definieren Expositionsgrenzen für Lärm, die nicht überschritten werden sollten, um negative Gesundheitseffekte zu minimieren, ..." (eigene Übersetzung)
Als wesentliche Neuerungen werden u.a. hervorgehoben:
(eigene Übersetzung)
2022 hat die bundesdeutsche Länderarbeitsgruppe 'Umweltbezogener Gesundheitsschutz' (LAUG) einen
Bericht
zum "Lärmschutz aus Sicht des umweltbezogenen Gesundheitsschutzes" herausgegeben, der im Wesentlichen auf den Erkenntnissen der WHO-Richtlinie basiert.
2023 hat das Umweltbundesamt eine eigene
lärmfachliche Bewertung
der Leitlinien herausgegeben. Darin werden noch einmal ausführlich die Methoden und Vorgehensweisen des WHO-Leitlinienprozesses dargestellt und auf Kritik eingegangen, die dazu veröffentlicht wurde. Im Ergebnis wird festgestellt:
"Die neuen WHO Leitlinien für Umgebungslärm für die Europäische Region sind ein wichtiger Meilenstein für die gesundheitsbezogene Bewertung des Umgebungslärms"
und eine Reihe von Forderungen an die Lärmschutz-Gesetzgebung in Deutschland entwickelt.
Ebenfalls 2023 hat die WHO in einer Art Evaluierungsbericht die "Aufnahme und Umsetzung der Leitlinie" in den Mitgliedsstaaten beschrieben. Trotz des positiven Grundtons ("Die Leitlinien haben bereits einen direkten Einfluss auf die Politik auf lokaler, regionaler, nationaler und supranationaler Ebene in zahlreichen Mitgliedsstaaten und in der EU gehabt" (eigene Übersetzung)) wird darin deutlich, dass eine baldige Umsetzung kaum zu erwarten ist ("Das Haupthindernis ist, dass die empfohlenen Lärmwerte als unerreichbar niedrig und daher nicht durchsetzbar betrachtet werden. ... Der Unterschied zwischen den geltenden nationalen Lärmgrenzwerten und den empfohlenen Leitlinienwerten ist zu groß und Zwischenziele sind nötig." (eigene Übersetzung)).
2024 hat die WHO ein Update der Methoden zur Abschätzung der Gesundheitsrisiken durch Umgebungslärm durchgeführt. Dabei wurden zahlreiche Gewichtungsfaktoren "für den Schweregrad von gesundheitlichen Beeinträchtigungen", die u.a. durch Lärm verursacht oder gefördert werden können, neu bestimmt. Dies bietet neue Möglichkeiten der Quantifizierung von Lärmwirkungen, allerdings wird die "Verwendung von disability weights ... zum Teil kritisch gesehen, da hier komplexe und zum Teil individuelle Wertungen des Schweregrades einer Erkrankung oder der dadurch verursachten Beeinträchtigung in einer Zahl zusammengefasst werden."
In der EU wird die Messung und Bekämpfung von Umgebungslärm durch eine
Richtlinie
(Environmental Noise Directive, END) geregelt. Sie dient dem im
Zero Pollution Action Plan
der EU-Kommission formulierten Ziel, bis 2030
"den Anteil der Personen, die durch Verkehrslärm chronisch belastet sind, um 30 % zu reduzieren" (eigene Übersetzung).
In der letzten
Änderung
der
"Methoden zur Bewertung der gesundheitsschädlichen Auswirkungen von Umgebungslärm"
der Richtlinie im März 2020 wurden
"Zusammenhänge zwischen Umgebungslärm und den folgenden gesundheitsschädlichen Auswirkungen festgestellt":
2021 hat die EU in einer Studie 23 politische Maßnahmen vorgestellt, mit denen die Belastungen durch Umgebungslärm wirksam reduziert werden könnten. Einige der Vorschläge betreffen die Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Lärmbekämpfung auf EU-Ebene, aber letztendlich bleibt die Umsetzung aller wirksamen Maßnahmen Sache der Mitgliedsstaaten.
Die Bekämpfung von Lärm ist daher auch eines der
Kernthemen
des Umweltbundesamtes. Auf den Unterseiten zu diesem Thema findet sich
Grundlegendes zu technischen und juristischen Aspekten der verschiedenen Lärmarten, sowie zu den
Wirkungen
des Lärms auf die Gesundheit der Menschen.
In der
Publikationsliste
des UBA finden sich unter dem Suchwort "Lärm" eine Vielzahl von interessanten Studien und Berichten. Im Januar 2024 führte das UBA anlässlich seines 50. Geburtstages eine
Fachtagung
mit dem Titel "50 Jahre UBA – 50 Jahre Schutz vor Lärm" durch. Einer der Festvorträge befasste sich mit dem
Stand der Lärmwirkungsforschung
und beschreibt aktuelle Probleme und mögliche Lösungsansätze.
Speziell zum Thema "Infraschall" hat das UBA bereits 2014 eine
Machbarkeitsstudie
erstellen lassen, die den damaligen Wissensstand zusammenfasste und Vorschläge für weitere Forschungsprogramme entwickelt hat. 2020 erschienen die Ergebnisse einer
Laborstudie
zu den "Lärmwirkungen von Infraschallimmissionen". Kurze Übersichten liefern auch Artikel im
Ärzteblatt
und in
Medical Tribune.
Der Festvortrag bei der UBA-Geburtstagsfeier, der
Geschichte und Perspektiven
der UBA-Tätigkeiten im Bereich Lärm umreisst, befasst sich ebenfalls schwerpunktmäßig mit den Forschungen zu neuen Lärmproblemen im Rahmen der Energiewende, die durch niederfrequenten und Infraschall von Windenergieanlagen und Wärmepumpen entstehen.
Flugzeuge machen nicht nur eine Menge Krach, sie haben auch eine Menge Teile, die Krach machen.
Was Fluglärm ist und wie er entsteht, erläutert eine eigene
Fachseite
im Themenkomplex Lärm des UBA. Einige weitere technische Details zur Entstehung von Fluglärm stellt (in einfacher Sprache) eine
entsprechende Seite
der Verursacher-Organisation BDL in einem eigenen
Fluglärm-Portal
dar.
Das "Umwelt- und Nachbarschaftshaus" betreibt als Einrichtung der hessischen Landesregierung ebenfalls eine Infoseite
Fluglärm – Basiswissen.
Obwohl die Lärmemissionen von Flugzeug-Triebwerken relevante Anteile von Schall im niederfrequenten und Infraschall-Bereich enthalten, spielt dieser Aspekt in keiner der Übersichten eine Rolle.
Ansätze, die Wirkungen dieser Anteile zu untersuchen, gibt es vereinzelt auf internationaler Ebene, wie in
Webinaren
der UECNA 2024 dargestellt wurde: Einerseits wird versucht, die
Lärm-Metriken
für die Darstellung des Fluglärms zu ergänzen, andererseits werden per
Data Mining
Zusammenhänge zwischen niederfrequentem Schall und körperlichen Stressreaktionen gesucht. Beide Initiativen haben allerdings bisher nur wenig Unterstützung gefunden.
Die speziellen gesundheitlichen Wirkungen von Fluglärm sind mit Beginn großer Flughafen-Ausbauprojekte um die Jahrhundertwende (Berlin, Frankfurt) stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Die von den Ausbaugegnern dazu zusammengetragenen Materialien sind leider überwiegend nicht mehr online verfügbar. Spezielle Webseiten sind vom Netz gegangen, und das DFLD-Archiv, das nach wie vor viele dieser Materialien enthält, ist aus urheberrechtlichen Gründen für Privatpersonen insgesamt nicht mehr zugänglich.
Fraport hatte bereits in das Planfeststellungsverfahren zur 2000er Ausbaurunde eine sog.
Fluglärm-Synopse
eingebracht, die allerdings nie vollumfänglich veröffentlicht wurde. Sie wurde bereits in der
Erörterung
zum Planfeststellungsverfahren regelrecht zerpflückt und in Fachkreisen
nicht ernstgenommen.
Auch spätere Rechtfertigungsversuche wurden
schnell widerlegt.
An frühen Studien aus dieser Zeit spielten insbesondere die
RANCH-Study
zur Wirkung von Fluglärm auf Kinder und die
HYENA-Studie
zur Wirkung auf den Blutdruck eine Rolle.
Ebenso wie innerhalb der Wissenschaft zur Lärmforschung gab es zu dieser Zeit auch in der Ärzteschaft deutliche Mehrheiten für ein konsequenteres Vorgehen gegen die Krankheitsbelastungen durch Lärm, speziell auch durch Fluglärm.
Bereits 2008 wurde ein sehr interessanter und gut lesbarer
Übersichtsartikel
im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht.
Der 115. Deutsche Ärztetag 2012 forderte in einem
Beschluss,
den Schutz der Bevölkerung vor Fluglärm durch Verschärfung der einschlägigen Gesetze zu verbessern.
Der 117. Deutsche Ärztetag 2014 hat diesen Beschluss bestätigt und darüber hinaus
gefordert, die Verursacher von Verkehrslärm an den Behandlungskosten für dadurch induzierte Krankheiten zu beteiligen. Nach Meinung der Ärztinnen und Ärzte ging es dabei bereits damals um Summen von mehreren 100 Millionen Euro im Jahr.
Speziell mit der Situation im Rhein-Main-Gebiet und dem Umgang mit dem Thema in der Ausbau-Diskussion setzte sich ein
Themenheft
der Ärztezeitung vom September 2012 auseinander.
Das Ärzteblatt Rheinland-Pfalz brachte in der
Märzausgabe 2013
einen eigenen Schwerpunkt zum Thema Lärm mit mehreren Beiträgen zu Fluglärmwirkungen, darunter einen
Beitrag
von Prof. Greiser zur Erhöhung des Erkrankungsrisikos durch Fluglärm für eine Vielzahl von Krankheiten, das er in einer Kölner Studie ermittelt und später auf Rhein-Main übertragen hatte.
Im Januar 2016 erschien eine weitere, sehr interessante
Übersichtsstudie über den Stand der wissenschaftlichen Forschung zu den gesundheitlichen Wirkungen des Fluglärms, die auch Empfehlungen für neu festzusetzende Grenzwerte enthielt.
Ebenfalls 2016 hat der "Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU)" der Bundesregierung ein
Sondergutachten
zu
"Fluglärm reduzieren: Reformbedarf bei der Planung von Flughäfen und Flugrouten"
vorgelegt und festgestellt:
Fluglärm ist ein dauerhaft ungelöstes Umweltproblem mit weitreichenden Folgen für die Gesundheit und die Lebensqualität der betroffenen Anwohner. Gleichwohl weist das Planungs- und Genehmigungsverfahren für Flughäfen gewichtige Defizite in diesen Belangen auf. Das gilt zum Beispiel für die Einbeziehung der sogenannten Flugrouten, die Durchführung der Umweltverträglichkeitsprüfung und die Öffentlichkeitsbeteiligung.Diese Feststellung ist leider auch zehn Jahre später noch uneingeschränkt gültig, und die Vorschläge des SRU zur Überwindung dieser Defizite warten nach wie vor auf ihre Umsetzung.
Nachdem die wesentlichen Ausbauprojekte durchgesetzt (bzw. durchgeprügelt) worden waren, wurden noch Studien durchgeführt, die eigentlich zeigen sollten, dass die Auswirkungen dieser Maßnahmen keineswegs so dramatisch wurden, wie die Ausbaugegner*innen behauptet hatten.
Das gelang nur sehr begrenzt.
Die im Rhein-Main-Gebiet durchgeführte
NORAH-Studie
(„Noise-Related Annoyance, Cognition, and Health“, „Lärmbezogene Belästigung, Denkprozesse und Gesundheit“) wurde im Mai 2011 begonnen. Sie war ein Projekt der hessischen Landesregierung, formeller Auftraggeber war die landeseigene Gemeinnützige Umwelthaus GmbH, für die fachliche Begleitung zuständig war das
Forum Flughafen und Region.
An der
Finanzierung
der fast 10 Millionen Euro teuren Studie waren auch die Fraport mit 1 Mio €, die Lufthansa mit 120 Tsd. € und Kommunen der Region mit 216 Tsd. € beteiligt. Die Beteiligung der Luftverkehrswirtschaft an Steuerung und Präsentation der Studie war allerdings wesentlich umfangreicher als die an der Finanzierung.
Die Einflussnahme auf die Präsentation der Ergebnisse ging soweit, dass das FFR Ende Oktober 2014 eine eigene neue
Webseite
einrichtete, die die Ergebnisse der Studie populärer (und interessengeleitet) vermitteln sollte. Eine
Broschüren-Reihe
sollte in allgemein verständlicher Form über alle Bereiche der Gesamtstudie informieren.
Selbst das Logo wurde so ergänzt, dass schon damit eine positive Botschaft übermittelt werden sollte und nicht mehr von Lärm, Belästigung und Krankheit, sondern von Lebensqualität, Gesundheit und Entwicklung geredet wurde. Diese Versuche der Schönfärberei der erzielten Resultate eskalierten mit der Präsentation der Forschungs-Ergebnisse.
Das erste Ergebnis der NORAH-Studie wurde allerdings praktisch garnicht weiter kommuniziert. Zwar durfte der NORAH-Projektleiter die genauere und räumlich und zeitlich erweiterte Erfassung der tatsächlichen Fluglärmbelastung der Anwohner im Rhein-Main-Gebiet in einer Pressemitteilung vom Januar 2014 vorstellen mit den Worten "Sowohl das Ausmaß als auch die Genauigkeit der akustischen Berechnungen sind einmalig für eine Lärmwirkungsstudie", aber ansonsten wurde vor allem betont, dass damit die Akustikdatenbank bereit sei, die es erlauben sollte, beobachtete Effekte mit der tatsächlich am Ort vorliegenden Lärmbelastung zu korrelieren.
Tatsächlich handelte es sich dabei aber sowohl von der Methodik als auch von der Genauigkeit her um einen qualitativen Sprung gegenüber den bisherigen Lärmberechnungen der Fraport, wie aus ausführlichen Vergleichen im
Akustik-Endbericht
der Studie hervorgeht.
Den Berechnungen zugrunde gelegt wurden die realen Flugdaten für An- und Abflüge aufgrund der vorhandenen Radar-Daten (3 Raumkoordinaten und Geschwindigkeit) und des für jeden Flug gemeldeten Abfluggewichts. Am Wirkungsort des Lärm wurden jeweils die lokalen Gegebenheiten (Topografie, Lage des Hauses in der Bebauung etc.) berücksichtigt. In der NORAH-Akkustikdatenbank stehen daher u.a. die Lärmbelastungs-Werte für das ganze Rhein-Main-Gebiet, in dem der Tagesdauerschall-Pegel 40 dB(A) erreicht oder überschreitet, für die Jahre von 1996 bis 2014 zur Verfügung.
Leider werden die erhobenen Daten von den Auftraggebern der Studie geheimgehalten und, mit Ausnahme einiger späterer Folgestudien, nach Abschluss des Projekts nicht mehr genutzt. Auch die ausgearbeiteten Berechnungsmethoden und die speziell entwickelte Software für die Fluglärmberechnung kam nie wieder zum Einsatz, Fraport rechnet bis heute mit den alten ungenauen und unzureichenden Methoden.
Dass das nicht (nur) an dem grösseren Aufwand liegt, zeigt die Tatsache, dass es dem Deutschen Fluglärmdienst DFLD kurz danach möglich war, im Auftrag der Initiative 'Zukunft Rhein-Main' mit ähnlichen Methoden
Lärmkarten zu erstellen
und den Kommunen und Initiativen
zur Verfügung zu stellen.
Die als erste beendete Kinderstudie, die die Wirkung von anhaltender Fluglärmbelastung auf die kognitiven Leistungen und das Wohlbefinden von Grundschulkindern im Rhein-Main-Gebiet untersuchte, wurden am im November 2014 vorgestellt. Auf der NORAH-Webseite gibt es dazu einen umfassenden Endbericht, das Umwelthaus veröffentlichte einen Überblick sowie eine Broschüre über die Grundlagen und eine über die Ergebnisse.
Wichtigste Aussage war, dass die Lesekompetenz der Kinder am Ende der zweiten Klasse umso weniger entwickelt war, je höher der Fluglärm war, dem sie in der Schule und an ihrem Wohnort ausgesetzt waren. Weiter wurde festgestellt, dass die Störung des Unterrichts durch Fluglärm z.T. äusserst gravierend war und demzufolge auch die Belästigung der Kinder (und Lehrer*innen) hoch und ihre Lebensqualität eingeschränkt war.
Die Autor*innen des Berichts wiesen nachdrücklich darauf hin, dass die Studie nur eine Momentaufnahme der Situation am Ende der zweiten Klasse beschreibt und keine Aussage darüber gemacht werden konnte, ob die festgestellte Verzögerung in der Entwicklung der Lese-Fähigkeit im Laufe der weiteren Entwicklung (unter Fluglärm-Einfluss) ausgeglichen werden kann oder zu dauerhaften Defiziten führt.
Damit konnte die Studie zwar einige wissenschaftlich noch nicht hinreichend fundierte Thesen bestätigen, praktisch blieben aber entscheidende Fragen offen. Welche kognitiven Fähigkeiten und Entwicklungen werden ausser der Lesekompetenz noch durch Fluglärm beeinträchtigt, und in welchem Umfang? Haben Kinder, die ihre Schullaufbahn unter Fluglärmeinfluss absolvieren, einen dauerhaften Nachteil?
Die Landesregierung sah sich nicht veranlasst, die von der Studie aufgeworfenen Fragen weiter bearbeiten zu lassen oder das Thema in einer anderen Weise weiter zu verfolgen.
Die
Belästigungsstudie
hat relativ wenig öffentliche Aufmerksamkeit gefunden, war aber für die Auftraggeber ein zentrales Element der NORAH-Studie. Bereits das "Regionale Dialogforum", das den Ausbau des Frankfurter Flughafens vorbereiten und begleiten sollte, hatte eine ähnliche, wenn auch weit weniger aufwändige
Studie
durchführen lassen.
In beiden Studie ging es neben der Frage, welche räumlichen Ausdehnungen die relevante Belästigung durch Fluglärm hat, d.h. wo sich wie viele Menschen hauptsächlich durch Fluglärm in ihrem Wohlbefinden und in ihrer Lebensqualität eingeschränkt fühlen, vor allem darum, empirisch fundierte sog. Expositions-Wirkungs-Funktionen zu finden.
"Belästigung" hatte sich seit den siebziger Jahren als relativ einfach (durch Befragungen) erfassbares Maß für die Wirkung von Lärm durchgesetzt. Den Forschungsstand bis etwa 2010 dazu beschreibt ein UBA-Text. Darin wird festgestellt:
In vielen Studien scheinen sich lineare Dosis-Wirkungsbeziehungen sowohl für die Belästigung, die Schlafstörung als auch gesundheitliche Auswirkungen zu zeigen. Große Unterschiede werden allerdings im Anstieg dieser Funktionen als auch in der Existenz oder Nichtexistenz von Schwellenwerten deutlich. Innerhalb der einzelnen Studien werden oft hochsignifikante Ergebnisse erhalten, die aber im Vergleich mit anderen Studien nicht konsistent sind.Daher war es eine wesentliche Aufgabe der NORAH-Studie, Dosis-Wirkungs-Beziehungen zu etablieren, die als an die lokalen Bedingungen angepasst gewertet werden konnten. Dies sollte insbesondere dazu dienen, die Wirkungen von Änderungen im Luftverkehr (z.B. die gewünschte Zunahme der Zahl der Flugbewegungen) als auch von Lärmminderungsmaßnahmen (neue Flugverfahren, Flugrouten-Änderungen etc.) quantifizieren zu können.
...
Es erscheint auch zweifelhaft, ob die Etablierung europaweit einheitlicher Dosis-Wirkungsbeziehungen sinnvoll ist, da kulturelle, regionale, saisonale, klimatische, bauliche Unterschiede darin nicht widergespiegelt würden.
Es dauerte allerdings bis 2019, bis das "Forum Flughafen und Region" diese Absicht umgesetzt und einen überarbeiteten "Frankfurter Fluglärmindex" FFI 2.0 eingeführt hat. Dieser nutzt für den Tagindex (angeblich) die in NORAH ermittelten Dosis-Wirkungs-Beziehungen, während der Nachtindex nicht die Belästigung, sondern die Zahl der Aufwachreaktionen als Maß für die Wirkung nimmt. Eine Dosis-Wirkungsbeziehung für Letztere wurde in der öffentlich ebenfalls wenig diskutierten NORAH-Schlafstudie entwickelt.
In einer Folgestudie, die 2017 vorgestellt wurde, wurde übrigens noch herausgearbeitet, dass zu den "regionalen Unterschieden" in der Fluglärmwirkung auch das "Vertrauen in die Autoritäten" gehört, also das Vertrauen in die Aussagen von Flughafenbetreiber, Aufsichtsbehörde etc. über die weitere Entwicklung der Belastung, die Fairness der Abwägungen etc.. Angesichts der völligen Unglaubwürdigkeit von Fraport, DFS und hessischer Landesregierung in diesen Fragen ist natürlich klar, dass die Belästigung durch Fluglärm in der Rhein-Main-Region besonders hoch ist.
Erstmals der Öffentlichkeit präsentiert wurden die Ergebnisse der Gesamtstudie in einer Pressekonferenz am 29. Oktober 2015. Die dort gegebenen Interpretationen der Auftraggeber wurden allerdings sehr schnell als einseitig und fehlerhaft entlarvt. Im Rahmen der Konferenz Aktiver Schallschutz (ICANA) im November 2015, die das Leitthema "Gesundheit" hatte, wurden die Einzelstudien ausführlich dargestellt und diskutiert. In ihrer Dezember-Sitzung bestätigte auch die Fluglärmkommission ihre Kritik an den Fehlinterpretationen der NORAH-Studie und forderte weitere Anstrengungen zum Schutz der Bevölkerung.
Die Zweiteilung der öffentlichen Darstellungen setzte sich auch nach Abschluss der Studie fort. Die Zusammenstellung aller Ergebnisse für die breite Öffentlichkeit, die von den Auftraggebern bereitgestellt werden, findet sich
auf der NORAH-Homepage
in der Rubrik 'Ergebnisse', nachfolgende Fachveröffentlichungen der AutorInnen wurden dort bis 2016 ergänzt unter
Veröffentlichungen.
Auf der von der Studienleitung selbst betriebenen Webseite werden die vollständigen
Endberichte
aller Teilstudien sowie auf den NORAH-Ergebnissen aufbauende
Veröffentlichungen
bis 2019 zum Download angeboten.
Im April 2023 hat das UBA die Ergebnisse eines Forschungsprojekts zu "Einfluss des Lärms auf psychische Erkrankungen des Menschen" veröffentlicht, in dem u.a. "eine erweiterte Analyse der NORAH-Studie zu Krankheitsrisiken" vorgenommen und ein "Einfluss von Verkehrslärm auf das Auftreten von psychischen Erkrankungen (insbesondere Depressionen und Angststörungen)" aufgezeigt wurde.
Die Durchführung dieser Studie war von Anfang an umstritten. 2012 haben zahlreiche ÄrztInnen aus der Region eine grundsätzliche
Kritik
an der Studie im Hessischen Ärzteblatt veröffentlicht. Aus Sicht der Betroffenen war insbesondere die Kritik wichtig, dass die NORAH-Studie benutzt wurde und wird, um mit dem Hinweis auf noch ausstehende Ergebnisse die Umsetzung notwendiger Maßnahmen zu verzögern, obwohl die grundlegenden Fakten längst bekannt sind. So sind etwa die Kernaussagen der NORAH-Kinderstudie auch in den
Ergebnissen
der
RANCH-Studie enthalten, die 2001-2003 in den Niederlanden, Großbritannien und Spanien durchgeführt wurde, auch wenn im Detail durchaus Fortschritte erzielt wurden.
Die an NORAH beteiligten WissenschaftlerInnen haben mit einem
Offenen Brief geantwortet, in dem sie auf bestehende Wissenslücken und die Notwendigkeit weiterer Forschungen hinwiesen, aber auch darauf,
"dass die Bevölkerung bestmöglich gegen die schädlichen Wirkungen des Fluglärms geschützt werden muss. ... Es wäre ein Mißbrauch der NORAH-Studie, wenn wirksame Präventionsmaßnahmen mit dem Hinweis auf die laufende Studie verzögert zur Anwendung kämen".
Nach Veröffentlichung der Studienergebnisse hat sich der Streit verschärft. Der Arbeitskreis "Ärzte gegen Fluglärm" wendete sich in einer
ersten Stellungnahme
zu den Ergebnissen insbesondere gegen die Verharmlosung der Fluglärm-Wirkungen und wies darauf hin, dass die Studie trotz teilweise erheblicher Unklarheiten und Mängel im Prinzip die Resultate anderer Studien bestätigte.
Der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Fluglärmkommissionen, Thomas Jühe, hat am 10. November 2015 ein
Schreiben
veröffentlicht mit einer eigenen Zusammenfassung der NORAH-Ergebnisse, denn
"teilweise wurden unzutreffende Zusammenfassungen der Studienergebnisse kommuniziert". Ohne es explizit zu sagen, wendete er sich damit wohl insbesondere gegen die verfälschenden Darstellungen der Fraport, die von anderen Luftverkehrslobbyisten aufgegriffen wurden.
Das Umweltbundesamt hat im April 2016 eine Fachliche Einschätzung der NORAH-Studie erstellt, die durchaus kritisch ausfiel. Trotzdem war das UBA der Meinung, dass die Studie wesentliche Forderungen zum Lärmschutz bestätigte. Unter anderem heißt es im Fazit:
"Des Weiteren verdeutlichen die Ergebnisse der NORAH-Studie die Wichtigkeit der bestehenden UBA-Empfehlung, den regulären Flugbetrieb an allen Flughäfen in der Zeit von 22:00 bis 06:00 Uhr ruhen zu lassen."Die Schutzkonzepte gibt es inzwischen, ihre Umsetzung steht allerdings noch aus.
Weiter heißt es:
"Darüber hinaus werden wir die Ergebnisse der NORAH-Studie zum Anlass nehmen, erweiterte Schutzkonzepte für den Tagesrandstundenbereich zu eruieren, um insbesondere dem zunehmenden Luftverkehrsaufkommen in den Morgenstunden wirkungsgerecht im Sinne des präventiven Gesundheitsschutzes zu begegnen."
Von 2014 bis 2020 wurde in der Schweiz die SiRENE-Studie durchgeführt, ein
interdisziplinäres Forschungsprojekt ..., das Versuche im Schlaflabor mit epidemiologischer Forschung, Bevölkerungsbefragungen und aufwändigen akustischen Berechnungen und Modellierungen kombiniert.
Hauptziel der SiRENE-Studie war die Untersuchung der Auswirkungen von Strassenverkehrs-, Schienen- und Fluglärm auf gesundheitliche Risiken (v.a. das kardiovaskuläre System betreffend), die Lärm-Belästigung und den Schlaf der Schweizer Bevölkerung. Eine besondere Stärke dieser Studie war die Kombination von experimentellen und epidemiologischen Forschungsmethoden zur Erforschung der Wechselwirkungen von akuten, kurz- und langfristigen Auswirkungen der Verkehrslärmbelastung auf den Menschen.
Die wichtigsten Ergebnisse der Studie wurden 2019 in einem Übersichtsartikel im 'Swiss Medical Forum', eine Publikation des Schweizer Ärzteverlags, dargestellt. Die Resultate im Einzelnen können in einer langen Liste von Publikationen nachgelesen werden. Obwohl im Detail auch weitergehende und teilweise auch andere Ergebnisse erzielt wurden, sind die Kernaussagen die gleichen wie die der NORAH-Studie. Der Übersichtsartikel nennt als "Das Wichtigste für die Praxis":
Dieser Aspekt wurde auch durch Untersuchungen im Rhein-Main-Gebiet bestätigt. Ende 2023 wurden die Ergebnisse einer über einen längeren Zeitraum im Rhein-Main-Gebiet durchgeführten Studie zur Gefährdung bereits im Herz-Kreislauf-Bereich vorerkrankter Menschen vorgestellt:
In der Recurrence and Noise (RaN)-Studie wurden 737 Patienten aus elf Krankenhäusern im Rhein-Main Gebiet nachbeobachtet. Alle Patienten waren hospitalisiert wegen eines akuten Koronarsyndroms.
Die Ergebnisse dieser Studie legen nahe, dass die Menschen in dieser Patientenkohorte mit einer solchen Erkrankung in der Vorgeschichte zehnmal stärker von Fluglärm betroffen sind als die Normalbevölkerung. Das Risiko für ein wiederkehrendes Herz-Kreislauf-Ereignis oder Tod erhöhte sich etwa um 30 % pro 10 dB Anstieg des Fluglärms.
Seit der Eröffnung der Nordwestlandebahn 2011 wird das Mainzer Universitätsklinikum durch Fluglärm belastet, da es bei Ostbetrieb direkt unter der Anfluglinie liegt (ohne das deshalb Fraport verpflichtet worden wäre, dort Schallschutz-Maßnahmen zu finanzieren). Daher ergeben sich dort besondere Motivation und Gelegenheit, die medizinischen Folgen der Fluglärmbelastungen zu untersuchen.
Eine erste
Studie
der Universitätsmedizin Mainz hat bereits 2013 zum ersten Mal den direkten Zusammenhang darstellen können zwischen nächtlichem Fluglärm und Gefäßschädigungen, die zu Bluthochdruck, Herzinfarkt oder Schlaganfall führen können. Die ersten Ergebnisse wurden in einer
Pressemitteilung
und in einer
Zusammenfassung
im Jahresbericht der Klinik veröffentlicht, ein
Bericht in der Ärztezeitung gibt ebenfalls eine gute Zusammenfassung.
Die zweite
Forschungsarbeit
im Rahmen dieser Studie, zu der die Uni Mainz ebenfalls eine
Pressemitteilung
herausgegeben hat, untersuchte Patienten, die bereits vorgeschädigt waren, und fand ebenfalls deutliche Auswirkungen. Die Untersuchungen wurden und werden fortgesetzt, die "Stiftung Mainzer Herz" hat eine umfangreiche
Link-Liste
und ein
Sonderheft
zu
"Fluglärm und Gesundheit"
herausgegeben. 2024 hat Dr. Omar Hahad von der Universitätsmedizin Mainz einen
Überblick
über die
"negativen Gesundheitswirkungen von Lärm"
in einem UECNA-Webinar präsentiert.
An der Uni Mainz gibt es auch ein Institut für Infraschall-Forschung, das sich mit der Wirkung von Infraschall und niederfrequentem Schall auf cardiovaskuläre Prozesse befasst. Im Mittelpunkt der Forschung steht allerdings nicht der Fluglärm, sondern die Schall-Emission von Windkraft-Anlagen. Ein Übersichtsartikel aus diesem Institut ist leider nur hinter einer (hohen) Bezahlschranke verfügbar.
Trotz eines gewissen Aufschwungs der Lärmwirkungsforschung seit der Jahrhundertwende sind schon lange beklagte Defizite bis heute nicht aufgearbeitet. Bereits ein im März 2013 vorgelegter DLR-Bericht zur Situation der Lärmwirkungsforschung in Deutschland kommt zu dem traurigen Ergebnis:
"Die augenblickliche Situation in Deutschland ist dadurch gekennzeichnet, dass die vorhandene Forschungsinfrastruktur aufgrund fehlender Ressourcen nicht imstande ist, die in allen wichtigen Wirkungsdisziplinen notwendigen grundlegenden Forschungsarbeiten zur Lärmwirkung aufzunehmen und erfolgreich durchzuführen. Unter diesen Umständen ist nicht zu erwarten, dass der in diesem Bericht aufgezeigte Erkenntnisbedarf auf allen Ebenen der Gesellschaft in den nächsten Jahren erfüllt werden kann." (S.49)Auch das UBA kommt drei Jahre später (in der oben zitierten Einschätzung der NORAH-Studie) zu der Schlussfolgerung
"Obgleich die NORAH-Studie erneut bestätigt, dass eine kontinuierliche Lärmbelastung eine relevante Risikogröße für die Gesundheit des Menschen darstellt, zeigt die Studie auch, dass weiterhin hoher Forschungsbedarf in allen Wirkungsbereichen existiert, um das Verständnis über die genauen Mechanismen, wie Lärm sich auf die Gesundheit des Menschen auswirkt, zu verbessern."
Ende 2020 trat eine "Initiative Lärmwirkungsforschung", die bei der für dieses Thema zuständigen zentralen Forschungseinrichtung des Bundes, dem Deutschen Institut für Luft- und Raumfahrt (DLR) angesiedelt ist, mit einem Flyer an die Öffentlichkeit, in dem ein Verbundforschungsprogramm "Fachübergreifende Lärmwirkungsforschung" vorgeschlagen wird, denn
"trotz großer Anstrengungen und Fortschritte bestehen in der Praxis noch immer Defizite in der Bewertung der Wirkungen von Umgebungslärm".Aktuell findet sich in der Internet-Präsenz des DLR eine Seite mit konzeptionellen Präsentationen, darunter ein Überblick über die Initiative. Wann diese Phase beendet wird und ob über eine Fortsetzung bereits entschieden ist, ist daraus nicht zu entnehmen.
Deshalb "sollen Methoden weiterentwickelt werden, die eine sozial gerechte, effiziente und proaktive Lärmminderungsplanung ermöglichen".
" Das Gesamtprogramm wird in Phasen angelegt, an deren Ende jeweils über die Fortführung entschieden wird."
Andere Ansätze, mit denen die Lärmwirkungsforschung in Deutschland oder Europa entscheidend voran gebracht werden könnte, sind derzeit nicht erkennbar, obwohl natürlich weiterhin Projekte, auch im Bereich Fluglärm, durchgeführt werden und sicher auch neue Ergebnisse liefern werden.
Demgegenüber gibt es Hinweise, die die Sorge begründen, dass sich hinter den oben angedeuteten neuen Entwicklungen ein Paradigmenwechsel verstecken könnte, der das Konzept der konsequenten Lärmminderung durch eine Art "Lärm-Design" ersetzen möchte, das je nach den lokalen Bedingungen von den Beteiligten "ausgehandelt" wird. Oder anders gesagt: das vorherrschende Lärmniveau könnte künftig auch ganz offiziell von denen bestimmt werden, die die stärkste gesellschaftliche Durchsetzungsmacht haben, in aller Regel also von den Wirtschaftsinteressen.
Natürlich kommen solche Konzepte zunächst einmal ganz harmlos und mit den besten Absichten daher. So wird in einem
Festvortrag
zum 50. Geburtstag des UBA Anfang 2024 zum Thema "Lärmwirkung" das sog. "Soundscape"-Konzept als eine Perspektive vorgestellt, die schon in der europäischen Lärmgesetzgebung angelegt sei, intensive Bürgerbeteiligung beinhaltet und auf die Schaffung optimierter akustischer Umgebungen abzielt. Als Beispiele werden die Gestaltung öffentlicher städtischer Plätze, aber auch ein
Aktionsplan
aus Wales, wo das Konzept bereits in Regierungshandeln eingegangen ist.
Die Beschreibungen klingen überwiegend positiv, bleiben aber sehr unkonkret. Dabei fallen Sätze wie:
Es ist vermutlich noch zu früh, hier die Alarmglocken zu läuten, aber man sollte diese Entwicklung im Auge haben und protestieren, wenn versucht wird, mit solchen wolkigen Vorschlägen Schutzvorschriften aufzuweichen oder zu relativieren.
Mit der Überführung der Erkenntnisse der Lärmwirkungsforschung in Gesetzgebung und Vollzug sieht es entsprechend ebenfalls kritisch aus. Die Gesetzgebung hinkt den Ergebnissen der Lärmwirkungsforschung teilweise um Jahrzehnte hinterher bzw. wird dort, wo sie aktuelle Schutz-Forderungen übernommen hat, nur völlig unzureichend umgesetzt.
Die Lücke zwischen bestehenden Grenzwerten und gesundheitlich notwendigen Schutzniveaus wird auch zunehmend als unüberwindbar angesehen. So muss eine
WHO-Bestandsaufnahme
2023 feststellen,
"dass die empfohlenen Lärmwerte als unerreichbar niedrig und daher nicht durchsetzbar betrachtet werden. ... Der Unterschied zwischen den geltenden nationalen Lärmgrenzwerten und den empfohlenen Leitlinienwerten ist zu groß und Zwischenziele sind nötig." (eigene Übersetzung).
Auch die EU-Kommission schätzt die Umsetzung der EU-Umgebungslärm-Richtlinie in den Mitgliedsstaaten als
unzureichend
ein. Obwohl die von der Richtlinie gesetzten Schwellenwerte
"oberhalb der WHO-Empfehlungen für den maximalen Lärmpegel"
liegen und daher
"die Analyse der Kommission, die auf den von den Mitgliedsstaaten gemäß der Richtlinie gemeldeten Daten basiert, einen kleineren Anteil der EU-Bevölkerung ab[deckt], als es der Fall wäre, wenn die Mitgliedstaaten Daten gemäß den WHO-Empfehlungen vorlegen müssten",
leiden weit über 100 Millionen Menschen in der EU unter höheren Pegeln von Umgebungslärm, als die Richtlinie vorsieht. Auch das UBA sieht
Problematiken
in der Umsetzung der Richtlinie.
Entspreschend skeptisch fällt der
Outlook 2030
des Europäischen Umweltbüros über die Möglichkeit der Erreichung der Ziele 2030 im Bereich der Bekämpfung des Verkehrslärms aus. Eine der Kernbotschaften lautet:
In einem optimistischen Szenario, das die Einführung eines umfangreichen Pakets von ambitionierten Maßnahmen beinhaltet, wird vorhergesagt, dass die Zahl der von Verkehrslärm hoch Belästigten bis 2030 um ca. 19% zurückgeht.
In einem weniger ambitionierten Szenario wird vorhergesagt, dass die Zahl der Betroffenen um 3% ansteigen wird.
(eigene Übersetzung)
Eine
eigene Studie
der Kommission zum Bereich 'Fluglärm' kommt zu dem Ergebnis, dass die EU-Umgebungslärm-Richtlinie und die eigens erlassene
Balanced Approach-Richtlinie
häufig nicht oder nur formal umgesetzt werden und das Lärm-Management an Flughäfen auf der Basis regionaler Regelungen, z.B. nationaler Gesetze und individueller Genehmigungen, durchgeführt wird.
Dies wird extrem deutlich am Flughafen Frankfurt, wo Fragen des
aktiven
und
passiven Schallschutz
auf der Basis nationaler Gesetze und des bestehenden Planfeststellungs-Beschlusses geregelt werden und die
Lärmaktionsplanung
auf der Basis der EU-Umgebungslärmrichtlinie nur als begleitende
Farce
auftaucht.
Die geltenden nationalen Gesetze, speziell das
Fluglärmschutzgesetz
und sein untergeordnetes Regelwerk sind völlig veraltet, wie ein
Gutachten
zur Evaluierung dieses Gesetzes im Auftrag des UBA bereits 2018 gezeigt hat. Ob die seit Jahren überfällige Novellierung irgendwann kommen wird und was sie bringen könnte, ist im Augenblick überhaupt nicht absehbar.
Dass vom technischen Fortschritt in Sachen Lärmreduzierung ebenfalls nicht viel zu erwarten ist, hat ein weiterer
Festvortrag
zum 50. Geburtstag des Umweltbundesamtes deutlich gemacht. In "Zusammenfassung/Ausblick" heisst es dort:
"Dauerschallpegel werden sich kaum verändern: landende Flugzeuge werden etwas lauter, startende Flugzeuge werden etwas leiser"
- und mehr Flugzeuge machen auch weiterhin mehr Krach.
Damit bleibt es also dabei: wenn die Belastungen durch Fluglärm künftig sinken sollen und die Bevölkerung im Umfeld des Flughafens gesünder leben können soll, müssen einerseits die Zahl der Flugbewegungen sinken und die ruhigen Zeiten, insbesondere in der Nacht, ausgedehnt werden, und andererseits die Bereiche, die unvermeidbarem Lärm ausgesetzt sind, wesentlich besser geschützt werden.
Anders gesagt: es braucht ein Nachtflugverbot von 22 bis 6 Uhr, eine Reduzierung der Zahl der Flugbewegungen insbesondere durch ein Verbot von Kurzstrecken- und Luxus-Flügen und einen wesentlich verbesserten passiven Schallschutz in allen Bereichen, in denen der Fluglärm die WHO-Richtwerte überschreitet.
Das wiederum erfordert ein neues Paradigma weniger in der Lärmwirkungsforschung, als vielmehr in der Luftverkehrspolitik, in der, wie in allen anderen Politikbereichen auch, die Schaffung und Erhaltung gesunder Lebensbedingungen in einer stabilen natürlichen Umwelt im Vordergrund stehen muss.